- Raffi
Küstenmutti und der freie Platz
Meine Hebamme sagte mir, als ich mit Nr. Zwei schwanger war: "Mach dir keine Sorgen, Kinder suchen sich den Platz in der Familie, der noch frei ist."
Und sie hatte so recht.
Manchmal betrachte ich meine Söhne, wenn sie - was selten genug vorkommt - mal friedlich zusammen spielen, und frage mich, wie zwei aus dem gleichen Genpool stammende Wesen so unfassbar unterschiedlich sein können.
Als Nr. Eins grade drei Monate alt war, warnte mich H. vor. "Dein Sohn neigt zu extremen Gefühlen - Wut genauso wie Freude." Er war erst drei Monate alt und sie konnte das schon sehen.
Nr. Eins ist unglaublich intelligent, wissbegierig und redegewandt. Mit anderthalb konnte er schon kleine Sätze sprechen, mit zwei erklärte er mir den Unterschied zwischen Radladern, Treckern und Baggern und mit vier Jahren klärte er mich kürzlich auf, das der Schmetterling, den wir gesehen haben, doch kein Zitronenfalter war, sondern ein Kohlweißling. Mensch Mama.
Er zählt bis dreihundert, kann schon etwas schreiben und bedient unsere Playstation wie ein Profi. Klingt toll? Klingt anstrengend.
Nr. Eins begeistert sich für sehr viel, er liebt Blumen, Gartenarbeit und Werkzeuge, er baut alles, was Elektronik beinhaltet auseinander, er kann stundenlang Bücher angucken und fährt für sein Leben gerne Fahrrad, er hat (leider) vor nichts Angst, probiert alles aus.
Genauso vielfältig, wie seine Interessen sind, ist seine Gefühlswelt. Und zwar von Null auf Hundert. Begeistert er sich eben noch fürs Malen, kriegt er nur Sekunden später einen Wutanfall von ungeahntem Ausmaße, weil der Stift abgebrochen ist. Er macht Pläne in seinem Kopf und wenn die nicht eins zu eins ausgeführt werden können, dann kann man nur noch das Weite suchen. Er kann lachen und fröhlich sein und sich im nächsten Moment heiser schreien vor Wut.
Momentan befindet er sich in einer weiteren Autonomiephase (klingt doch viel netter als Trotzphase, oder nicht?) und bringt uns alle mit seinem Starrkopf und seiner Ungeduld oft nahe an den Rand des Wahnsinns. Kleinigkeiten, die uns völlig lapidar erscheinen, führen bei ihm zum absoluten Kollaps - mehrmals täglich.
Nr. Eins war und ist kein Kuschler. Er hat als Baby schon nicht viel schmusen wollen, war lieber für sich und er kommt auch heute nur für eine kurze Umarmung. Wenn ich ihn aus dem Kindergarten abhole, bekam ich nie und bekomme auch immer noch keinen Drücker, er muss sich immer bewegen, hat keine Zeit.
Er ist ein ziemliches Papakind, von Anfang an. In den ersten zwei Jahren hat mich das sehr belastet, ich dachte permanent, ich mache was falsch, oder der Notkaiserschnitt hätte dieses ganze Bindungsding komplett zerstört. Manchmal musste ich mir von ihm sogar den Satz "Mama soll nicht mitkommen!" gefallen lassen.
Und dann kam Nr. Zwei.
Mamakind von Sekunde 1 an, ein Schmuser vor dem Herren. Er verteilt Kussis ohne Ende, schlingt mir immer wieder seine kleinen Ärmchen um den Hals, sichert sich immer wieder ab, ob ich auch noch da bin, braucht immer wieder Körperkontakt. Hole ich ihn von irgendwoher ab, sieht er mich an, als wäre ich seine personifizierte Sonne.
Im Gegensatz zu seinem Bruder ist sein aktueller Wortschatz wohl eher altersgerecht, er ist Fremden gegenüber erstmal sehr skeptisch, beobachtet alles erst aus sicherer Entfernung. Er klettert zwar gerne, ist aber nicht so ein Haudegen wie sein Bruder, er ist generell etwas vorsichtiger. Dafür becirct er die Menschen reihenweise, weil er immer gut gelaunt ist, immer lacht und jedem Auto, das an uns vorbei fährt, hinterher winken muss. Wo Nr. Eins mit Redegewandtheit punktet, muss Nr. Zwei nur einmal den Kopf schief legen und lächeln. Ans Ziel kommen beide, nur mit völlig unterschiedlichen Mitteln.
Nr. Eins ist ein Kopfmensch, Nr. Zwei ein Herzensmensch.
Es stimmt, Kinder suchen sich ihren Platz in der Familie. Während mein Mann mit Nr. Eins toben kann, bis ihnen beiden der Schweiß durchs Gesicht läuft, schleppt Nr. Zwei lieber Bücher zu mir auf die Couch und lässt sich den Nacken kraulen, während Nr. Eins und mein Mann die tollsten Sachen mit bekannten Bausteinen oder Stöckern bauen, spielen Nr. Zwei und ich mit Tierfiguren oder tanzen durch die Wohnung.
Sie sind Brüder, ähneln sich in so vielen Dingen, unterscheiden sich aber in noch viel mehr.
Im Großen und Ganzen aber können wir von uns behaupten, bekommt jeder von ihnen das, was er braucht.
